Wieder zu Hause. Mädels-Abend ist etwas ganz Feines, alle Mädchen wissen das wahrscheinlich. Die gesammelte Mannschaft traf sich im Haus von Tobi und seiner kleinen Schwester Valerie, Valli, die auch zu meinem Freundeskreis gehört. Die Jungs haben wir in die Wüste geschickt, dann hatten wir ganze zwei Nächte und zwei Tage. Sassi, Laura, Romy, Valli und noch ganu viele andere Freundinnen, zu denen ich später noch etwas aufschreibe! Morgen wahrscheinlich erst mal etwas zu Valli.
Was haben wir gemacht? Wii und Singstar gespielt (ich kann nicht singen!), Plätzchen gebacken (im Februar, richtig), zusammen gekocht und gegessen, ganz viel gequasselt, Cocktails gemischt, ...
Mädels-Abende sind Pflicht. Meine Mädchen und ich, wir rocken das Leben. Sie sind wie pures Gold und ich liebe sie so dermaßen.
Eigentlich möchte ich jetzt eine Geschichte aufschreiben. Eine ernste zum Verarbeiten, bei der bis eben gerade nicht ganz fest stand, ob ich das wirklich alles aufschreibe oder doch lieber für mich behalten soll. Es ist mir ziemlich egal, ob sich das hier irgendjemand durchliest oder nicht, es hilft mir aber, wenn ich es aufschreibe. Wenn man den Post mit der Magersucht außen vor lässt, war dieser Blog bisher immer ziemlich fröhlich, weil mein Leben gerade einfach nur guuut und fröhlich ist, aber meine Vergangenheit ist es nicht. Es kostet mich Überwindung, mein Leben aus vergangenen Zeit aufzuschreiben, aber es hilft mir wahrscheinlich und danach fühle ich mich besser.
Diese Geschichte ist nicht besonders schön. Gewalt, Demütigungen und Enttäuschungen spielen eine große Rolle. Aber sie hat wenigstens ein Happy-End.
Mein Leben ist nicht erbärmlich, aber vor nicht allzu langer Zeit wollte ich es noch umtauschen. Ich wollte ein anderes. Ich bin keine Selbstmordkandidatin, ich wollte mich noch nie umbringen, ich bin eher die typische Heulsuse, wenn es mir zu viel wird. Und das wurde es leider oft. Es ist die Geschichte, warum ich keine Familie habe, warum ich so oft weine, warum ich so kaputt bin.
Meine Mutter wurde in Lübeck geboren und ist dort auch aufgewachsen. Ihr ging es dort ziemlich gut, ihre Eltern verdienten nicht schlecht und sie war ein Einzelkind. Das Image eines solchen kennt man ja. Ihre Kindheit verlief wohlbehütet, sie bekam alles, was sie wollte, und war zufrieden. Aber als sie in die Pubertät kam, wurde sie schwierig. Ihre Eltern bezeichneten sie als "undankbar" und "faul". Sie fing an, Schule zu schwänzen, hing den ganzen Tag mit einer zwielichtigen Clique herum und machte ihren Eltern nur Ärger. Denen wurde es irgendwann zu bunt. Und als meine Mama am Ende der neunten Klasse dann auch noch die Schule geschmissen hatte, machten sie kurzen Prozess und steckten sie in ein Internat. Von dort ist Mama aber weggelaufen und zurück nach Lübeck. Zu ihren Eltern wollte sie aber nicht mehr, denn die haben ihr ihrer Meinung nach mit dem Internat die schlimmste Freiheitsberaubung angetan, die es für sie gab.
Mama wusste nicht, wo sie hinsollte. Und irgendetwas musste sie ja machen, ab jetzt auf der Straße. Sie war gerade mal fünfzehn, als jemand sie ansprach, ob sie nicht auf eine einfache und sehr genussvolle Art Geld verdienen möchte. Klar, von irgendetwas musste sie leben.
Ohne zu wissen, worauf sie sich da einließ, sagte sie zu und merkte erst zu spät, wer dieser Typ eigentlich war, der ihr den Job angeboten hatte. Aber einmal logisch denken reicht und man weiß es. Der Typ war ein Zuhälter und meine Mama ab diesem Tag eine Nutte. Sie hat mir unter Tränen von dieser Zeit erzählt, es war noch mehr als jenseits von grauenvoll. Wenn es eine Hölle gäbe, wollte sie damals ihren Urlaub dort verbringen. Freizeit hatte sie keine mehr, nicht mal mehr genug Zeit zum Schlafen, Hauptsache Geld verdienen. Und das mit fünfzehn, auf solche kleinen Mäuse stehen die Männer natürlich. Fast drei Jahre machte sie diese Hölle mit, dann konnte sie nicht mehr.
Als ihre Eltern mitbekommen haben, was aus ihrer wohlerzogenen Tochter aus gutem Hause passiert war, brachen sie alle Brücken ab und verstießen sie. Ich habe bis heute keine Ahnung, wer meine Großeltern sind, denn sie haben sich nie wieder bei ihrer Tochter gemeldet. Mama war dann also allein.
Jeden Tag Sex für Geld, und aussteigen konnte man nicht. Kondome waren für die Männer Vorschrift, der Zuhälter achtete darauf. Er konnte es sich nicht leisten, dass seine Mädchen sich mit HIV oder anderen Krankheiten infizierten oder sogar schwanger wurden. Das wäre ja Geldverlust. Mama war mit Abstand die jüngste Nutte. Junges Frischfleisch wurde sie immer genannt. Und bei ihr hat es den ganzen Freiern am wenigsten gepasst, dass sie immer Kondome benutzen musste, ohne wäre ja schließlich viel geiler. Was haben sie gemacht? Abends oder vielmehr nachts, wenn Mama "Dienstschluss" hatte und der Zuhälter nicht mehr so genau hinsah, was seine Mädchen trieben, weil er schon mehrere Alkoholsorten durcheinander intus hatte, dann kamen sie und haben meine Mama vergewaltigt. Alle, immer wieder. Wie ein riesiger Soldatentrupp, der sich abspricht, heute ich, morgen du. Und jeder ist mal dran, damit es gerecht aufgeteilt ist. Es ist eigentlich ein Wunder, dass meine Mama kein AIDS bekommen hat. Aber schwanger wurde sie, von einem dieser widerlichen Typen. Geld für eine Abtreibung hatte sie nicht, also musste sie wohl oder übel das Kind austragen, und war sich sicher, es niemals lieben zu können und am besten zur Adoption freizugeben.
Ich bin dieses Kind. Ich bin das Ergebnis einer von zahllosen Vergewaltigungen. Wer letztendlich mein Erzeuger ist, kann man also so ohne weiteres nicht feststellen, es gibt mehr als 20 Möglichkeiten.
Als meine Mama merkte, dass sie schwanger geworden war, wollte sie aufhören, doch der Zuhälter ließ sie nicht. "Notfalls prügel ich dir das Kind aus dem Leib", sagte er. Aus Angst lief sie weg und begann wieder ein Leben auf der Straße. Sie lebt heute noch in Angst, dass er sie eines Tages finden könnte.
Sie war 17, als sie mich bekam, in einem Krankenhaus von Lübeck. Die wollten sie zuerst nicht aufnehmen, denn sie hatte kein Geld, keine Krankenkarte, gar nichts, stand also quasi mit Wehen im Flur und wurde abgewiesen. Mein Gott, Deutschland ist so ekelhaft zu seinen Bürgern. Die hätten sie ihr Kind glatt auf der Straße bekommen lassen, wenn nicht ein Pfleger mit Herz ein Auge zugedrückt und gesagt hätte, dass das nicht wahr sein kann und dass sie mit ihm mitkommen solle. Er hat sich durchgesetzt, dass sie ihr Kind normal zur Welt bringen konnte, was ihn aber beinahe seinen Job gekostet hatte. Meine Mama wollte mich zuerst zur Adoption freigeben, sie wollte mich nicht lieben können. Und ich kann es auch verstehen. Aber es kam anders. Sie erzählte mir, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, mich wegzugeben, als ich in ihrem Arm lag. Ich hätte so lieb ausgesehen und sehr viel von ihr, ich sehe meiner Mutter sehr ähnlich. Hätte ich meinem Erzeuger ähnlicher gesehen, hätte sie mich wahrscheinlich eher weggegeben. Also hat sie ihr Vorhaben aufgegeben und mich aufgezogen. Sie wusste, dass sich die Dinge grundlegend ändern mussten, das ging so nicht weiter. Sie lebte eine Weile in einem Frauenhaus und als sie volljährig wurde, ist sie dort wieder ausgezogen und hat sich Arbeit gesucht. Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Mama immer noch keinen Schulabschluss - wann hätte sie den auch machen sollen? - was die ganze Sache erheblich erschwert hatte. Deshalb ist sie so hinterher, dass ich in der Schule gut klar komme, denn sie wünscht sich für mich einen weitaus besseren Berufseinstieg, als sie ihn hatte.
Es war wirklich schwer, Arbeit zu finden, denn welcher Betrieb stellt schon eine junge Frau ohne Schulabschluss ein, noch dazu mit einem schreienden Kind? Sicherlich keiner. Mama hatte keine Freunde, wo sie mich hätte lassen können, deshalb musste sie mich zunächst mitnehmen, bis sie einen Krippenplatz finanzieren konnte. Einen Betrieb gab es. Die Chefin von dieser Arbeitsstelle hatte ein Herz und ließ Mama als Aushilfe arbeiten. So konnte sie wenigstens die Miete ihrer Wohnung bezahlen und wusste, wovon wir beide uns ernähren sollten. Aber die Firma musste bald Insolvenz anmelden, sie war einfach zu klein, um sich auf dem immer weiter steigenden Weltmarkt behaupten zu können. Also hatte Mama wieder nichts. Ich war mittlerweile ein Jahr alt und konnte dann wenigstens im Kindergarten bleiben, während Mama sich um neue Arbeit bemüht hatte.
Ich war im Kindergarten die Kleinste, aber ich konnte schon laufen und mit dem Löffel essen. Mama musste die Wohnung kündigen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Wir haben dann bei ihrer ehemaligen Chefin gewohnt, die mittlerweile ihre Freundin und meine Patentante geworden war. Ein halbes Jahr hat Mama von Sozialhilfe gelebt, sie hat sich wieder in einer Schule angemeldet und ihren Abschluss nachgemacht. Damit konnte man sich wenigstens bewerben, auch wenn das eine Weile gedauert hat. Zunächst waren erst mal wieder nur Aushilfsjobs drin, zum Beispiel als Putzfrau oder in einer Bäckerei. Irgendwann sind wir bei Sandra, also meiner Patentante, wieder aus- und in eine kleine Wohnung in ihrer Nähe wieder eingezogen. Sandra kam uns oft besuchen. Sie hat ebenfalls eine Tochter, die meine beste Kindergarten- und Grundschulfreundin wurde. Auch heute haben Theresa und ich noch Kontakt, Sandra kommt uns schließlich oft besuchen und bringt sie dann natürlich mit. Theresa ist ein bisschen jünger als ich, aber wir verstehen uns gut.
Mit einem ordentlichen Schulabschluss in der Tasche hat meine Mama eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht, fing aber schon bald an, als Taxifahrerin zu arbeiten, was sie auch heute noch tut. Fahrschule hatte sie irgendwann noch dazwischen geklatscht. Ich war den ganzen Tag im Kindergarten und wurde immer von Sandra mitgenommen, wenn sie Theresa abgeholt hatte. Und abends hat Mama mich dann bei ihr abgeholt. So ging das vier Jahre lang, so lange dauerte ihre Ausbildung und die Zeit, die sich brauchte, um Arbeit zu finden, mittlerweile als Taxifahrerin.
Dann kam ich in die Schule, worüber ich sehr froh war, denn im Kindergarten war es schrecklich. Wenn ich heute so drüber nachdenke, finde ich, dass diese ganzen Erzieherinnen absolut keine Ahnung von Pädagogik und/oder diese Unterrichtseinheit wohl verschlafen hatten. Uns wurde beigebracht, wie man sich zu wehren und durchzusetzen hatte. An und für sich eine gute Sache, aber die Art und Weise ging gar nicht. Man sollte sich durchbeißen und anderen nichts lassen, was einen selbst benachteiligt.
Man sollte andere Kinder schlagen, wenn sie einem das Spielzeug weggenommen hatten. Man sollte treten, hauen, kratzen, beißen und brüllen, nur um sich durchzusetzen. Ich habe mich schon frühzeitig geweigert, andere Kinder zu schlagen, denn Mama hatte mir immer wieder gepredigt, dass man das nicht macht, dass Gewalt absolut keine Lösung sei. Die Erzieherinnen sagten mir, ich sei zu klein und zu schwach, um mich durchzusetzen. Ich würde später nichts auf die Reihe bekommen, weil niemand mich je ernst nehmen könne. Mama wurde oft in den Kindergarten zitiert, weil ich ein unmögliches Kind wäre, das sich den Erziehungszielen des Kindergartens widersetzt. Da habe ich angefangen, andere zu hauen, bis sie weinten, denn ein kleines Kind, dem gesagt wird: "Du bist böse, du enttäuscht uns", wird natürlich alles tun wollen, was man von ihm verlangt, damit es nicht mehr böse ist.
Wahrscheinlich kommt daher meine manchmal etwas rüde und raue Art. Bestimmt war ich total unsicher und verwirrt. Mama erzählte immer weiter, dass ich niemanden schlagen sollte - und Mama hat ja bekanntlich immer Recht und weiß alles -, aber im Kindergarten bekam ich das genaue Gegenteil um die Ohren geklatscht. Ein Wunder, dass ich keine aggressive Schlägerbraut geworden bin.
Dann kam ich also in die Schule. Alles neu. Theresa wurde leider erst ein Jahr später eingeschult, aber ich fand einen ganz guten Anschluss in der Klasse. Das hat sich aber schon bald geändert, als sie erfahren haben, dass meine Mama "nur" als Taxifahrerin arbeitete und wir kein Geld hatten. Da war ich dann schnell unten durch. Kinder können so gemein und grausam zueinander sein. Also war die Grundschule gleichbedeutend mit sinnlosem Dahinvegetieren und Versuchen, den Ansprüchen gerecht zu werden. Ich glaube, wenn man so jung ist, dann sind das die besten Jahre, um geformt oder aber auch kaputt gemacht zu werden. Man fragt sich, was die anderen haben, was einem offensichtlich fehlt. Geld, aha. Alle Kinder, deren Eltern nur mittelmäßiges Einkommen hatten, wurden aus der Klassengemeinschaft nach und nach ausgeschlossen, die Lehrer sahen machtlos zu. Man fragt sich: Warum ich? Was habe ich denen getan? Ich hatte nur Theresa, als sie im nächsten Jahr dann endlich auch in die Schule kam. Mit meiner Klasse beruhigten sich die Spannungen irgendwann wieder. Nachdem die Direktorin mal ordentlich ihre Meinung gesagt hatte, schienen sie mich und unsere finanzielle Situation zu akzeptieren. Das war aber alles nur scheinheilige Fassade. Hinter meinem Rücken haben sie sowieso über mich gelästert. Das hat auch nicht aufgehört, als ich aufs Gymnasium kam. Auch hier waren wieder alle sehr nett und freundlich. Man arbeitete zusammen, man wurde hin und wieder auch zu einem Kindergeburtstag eingeladen, man wurde zusammen älter. Aber eine Freundin, eine richtige Freundin, hatte ich in Lübeck nie, nur Mama. Niemanden sonst. Selbst Theresa hat sich immer mehr von mir entfernt. Und nach einer Weile fing ich an, diese oberflächliche Bagage zu verachten. Sie interessierten sich für nichts anderes als für sich selbst. Jahrelang hieß es: Einatmen, Küsschen links, Küsschen rechts - umdrehen und kotzen! Das machten alle, also dachte ich, dass ich es auch machen müsste, obwohl ich es nicht wollte. Gruppenzwang ist echt das Letzte. Aber ich war ja zu schwach, um meinen Willen durchzusetzen und ich hatte auch nie die Chance gehabt, selbst etwas auszuprobieren, selbst gegen den Strom zu schwimmen, das hatten die Kindergartenerzieherinnen erfolgreich vernichtet.
Was war ich froh, als wir dort endlich weg konnten! Mama hat gemerkt, dass es mir schlecht ging, meine Noten haben sehr darunter gelitten. Deswegen sind wir umgezogen. Und was soll ich sagen? Hier sind wir glücklich. Hier habe ich die Liebe meines Lebens und richtige, echte Freunde gefunden. Als ich damals angekommen bin, war ich sofort positiv überrascht. Jahrelang waren in der Schule Demütigungen, Lügen, Verrat, Lästerei, Ignoranz, Egoismus und Oberflächlichkeit an der Tagesordnung. Und hier? Offenheit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Interesse, das Gefühl, etwas wert zu sein, einen soliden Platz in der Klassengemeinschaft zu haben. Ich glaube, so einen krassen Umschwung erfährt man nur einmal im Leben. Und dann hat das schon sehr bald mit Tobi angefangen.
Ich hatte in Lübeck auch einen Freund gehabt, aber was soll's? Er hatte keinen Bock mehr auf mich und ich wollte ihn nicht mehr, weil er mich dazu gedrängt hatte, mit ihm zu schlafen. Ende vom Lied? Zwei Tage später hatte er eine Neue. Zuckersüß, die Schlampe. Die hat sich bestimmt bereitwillig von ihm vögeln lassen. Mir egal. Tobi war in mein Leben getreten. Und dort ist er heute noch, mittlerweile an erster Stelle. Seine Augen, seine Stimme, sein Lachen. Ich liebe ihn so sehr. Und Sex ohne Liebe gibt's hier auch nicht.
Meine Mama hatte seitdem ein paar Mal wieder einen Freund gehabt, aber es hatte nie funktioniert. Wahrscheinlich hat sie Angst, sich richtig fallen zu lassen. Sie fürchtet sich davor, nicht aufgefangen zu werden. Ich bewundere sie für das, was sie getan hat. Sie hat ein Kind, dass sie eigentlich hassen müsste, behalten und gelernt, es zu lieben. Es war bestimmt ein riesengroßes Opfer für sie und ist es sicherlich noch heute, denn ich weiß, dass es schwer für sie ist. Schon allein, wenn sie mich ansieht, wird sie an ihre Vergangenheit erinnert. Meine Anwesenheit lässt alles wieder aufleben. Ich bin der wandelnde Beweis, dass man seine Vergangenheit selten oder nur sehr schwer hinter sich bringen kann. Sie müsste mich hassen, doch sie tut es nicht. Und dafür liebe ich sie. Sollte irgendjemand jemals etwas Schlechtes über meine Mutter sagen, dann ist der bei mir lebenslänglich unsympathisch und unten durch. Man sollte sich darauf einstellen.
Ich liebe meine wunderbare und unübertrefflich tolle Mama. Es bereitet ihr Schmerzen, mich anzusehen, mit mir zu reden, mich zu berühren, mich zu lieben. Sie tut es trotzdem. Sie erträgt tapfer die Schmerzen, um mir nicht zu schaden. Sie bringt ein riesengroßes Opfer. Und dafür danke ich ihr von ganzem Herzen.
All das habe ich erfahren, als ich 13 war, natürlich war es ein Schock. Aber seit diesem Tag weiß ich wenigstens, warum mein Erzeuger es nicht wert ist, überhaupt jemals seinen Namen in den Mund zu nehmen, wenn man den denn kennen würde, oder jemals auch nur von ihm zu reden.
Als ich klein war, wurde ich immer gefragt, was mein Vater macht, wo er ist und wie er heißt. Ich musste immer sagen, dass ich es nicht weiß. Andere Kinder erzählten, was sie alles Tolles mit ihren Vätern gemacht haben, das versetzte mir schon einen Stich. Wenn es in meinem Leben je etwas gab, worauf ich richtig neidisch gewesen bin, dann darauf. Ich habe es einfach nicht verstanden. Alle hatten einen Vater, nur ich nicht. Ich habe Mama oft gefragt, es hat sie Überwindung gekostet, überhaupt erst zu antworten. Dein Vater hat uns verlassen, hat sie immer gesagt. Wo er ist, wollte ich immer wissen. Das wisse sie nicht. Mehr Fragen hat sie nicht geduldet. Meistens fing sie dann auch an zu weinen, und ich habe mich verstört gefragt, was ich falsch gemacht habe. Also wurden Fragen zu meinem Vater weniger und irgendwann haben wir gar nicht mehr von ihm gesprochen. Es war nie die Rede von ihm gewesen, er hat nie existiert.
"Sind deine Eltern zu Hause?", fragen die Versicherungsfritzen am Telefon. "Mama arbeitet noch", antwortet die neunjährige Eileen. "Und dein Papa?" Aufgelegt.
Sie haben meistens noch mal angerufen und dann war Mama da, je nachdem wie ihre Schicht ging. Aber ich habe nie wieder auch nur ein Sterbenswörtchen von meinem Vater erzählt (zumindest nicht in der Zeit, als wir noch in Lübeck wohnten), ich habe nicht einmal mehr das Wort Papa in den Mund genommen, niemals wieder. Selbst heute nicht. Ich musste mich auch überwinden, dieses Wort überhaupt erst aufzuschreiben.
Ich habe keinen Vater, ich habe keine Familie. Ich habe meine Mama. Einen wunderbaren Freund. Und bombastische Freunde. Mehr brauche ich nicht. Hat schließlich mein ganzes Leben lang gut funktioniert.
Mamas Taxischichten wurden mit der Zeit strenger, je älter ich wurde. Deshalb hat sie mich so sehr zur Selbstständigkeit erzogen. Ich konnte mit sechs Jahren mein Lieblingsessen eigenständig kochen und war mit acht zum ersten Mal über Nacht alleine zu Hause, weil Mama Nachtschicht hatte. Und ständig bei Sandra einladen konnten wir uns ja schließlich auch nicht.
Ich hasse meinen Erzeuger. Ich denke, das versteht sich von selbst. Er hat meiner Mama nur Schlechtes angetan, er hat sie benutzt. Sie war für ihn kein Mensch, sondern ein wertloses Mittel zum Zweck. Sogar kostenlos. Die schönste Sache der Welt kann so schmutzig werden, indem sie so dermaßen in den Dreck gezogen wird. Und dann ist sie wertlos. Man ist dann wirklich nur noch ein Objekt. Elendig. Kalt. Gefühlstot. Taub. Eingeäschert. Nutzlos. Stumm. Und man lässt es über sich ergehen. Völlig menschenfremd. Wie ein Tier. Ein Tier, das schwächer ist als ein anderes. Man kann sich nicht wehren. Man kann nicht leben. Man kann aber auch nicht sterben.
Das Ganze ist jetzt 18 Jahre her. Meine Mama hat Angst, jemals wieder mit einem Mann zu schlafen. Sie hat es in den gesamten 18 Jahren auch nicht wieder getan. Sie fürchtet sich vor Erinnerungen. Es geht sogar schon so weit, dass sie mir einmal gesagt hat, sie hasse Sex. Kann ich verstehen.
Als sie mir das alles erzählt hat, bin ich in die Welt hinausgestiefelt mit meinen 13 Jahren und habe gedacht, Sex wäre etwas Verdorbenes, etwas Schmutziges, etwas Wertloses. Man solle sich hüten, auch nur jemals dieses Wort zu sagen, dann wäre man gleich selbst eine Hure. Sicher, ich habe Filme gesehen, in denen es Sex-Szenen gab, sie waren liebevoll und schön, wenn man jetzt zum Beispiel an "Titanic" oder "Romeo und Julia" denkt. Aber damals habe ich echt geglaubt, dass 'miteinander schlafen' und 'Sex haben' zwei verschiedene Sachen sind. Wahrscheinlich war das ewig meine Hemmschwelle. Ich wollte nie mit Daniel, meinem Ex-Freund aus Lübeck, schlafen, obwohl er mich immer gefragt und regelrecht dazu gedrängt hatte, mit ihm Sex zu haben. Ich habe mir immer gesagt: Nein, auch wenn du ihn liebst, eine Hure wirst du nicht.
Und dann kam Tobi. Erst Tobi hat mir gezeigt, was richtige Liebe überhaupt bedeutet. Als er mir damals sagte, dass er gerne mit mir schlafen möchte und mich gefragt hat, was ich davon halte, war ich regelrecht überrascht, aber auch neugierig. Und noch viel erstaunter darüber, dass es so schön wurde. Da wusste ich, dass Tobi derjenige ist, der mein Herz verdient hat. Er ist das Beste, was mir je passiert ist. Alleine seine Anwesenheit macht mich verrückt, sein Anblick bringt mich um den Verstand und seine Liebe ist das Wertvollste, was ich besitze. Und das wird immer so bleiben.
Ist etwas länger geworden, Scheiß drauf. Lebensgeschichten sind immer lang.
Was haben wir gemacht? Wii und Singstar gespielt (ich kann nicht singen!), Plätzchen gebacken (im Februar, richtig), zusammen gekocht und gegessen, ganz viel gequasselt, Cocktails gemischt, ...
Mädels-Abende sind Pflicht. Meine Mädchen und ich, wir rocken das Leben. Sie sind wie pures Gold und ich liebe sie so dermaßen.
Eigentlich möchte ich jetzt eine Geschichte aufschreiben. Eine ernste zum Verarbeiten, bei der bis eben gerade nicht ganz fest stand, ob ich das wirklich alles aufschreibe oder doch lieber für mich behalten soll. Es ist mir ziemlich egal, ob sich das hier irgendjemand durchliest oder nicht, es hilft mir aber, wenn ich es aufschreibe. Wenn man den Post mit der Magersucht außen vor lässt, war dieser Blog bisher immer ziemlich fröhlich, weil mein Leben gerade einfach nur guuut und fröhlich ist, aber meine Vergangenheit ist es nicht. Es kostet mich Überwindung, mein Leben aus vergangenen Zeit aufzuschreiben, aber es hilft mir wahrscheinlich und danach fühle ich mich besser.
Diese Geschichte ist nicht besonders schön. Gewalt, Demütigungen und Enttäuschungen spielen eine große Rolle. Aber sie hat wenigstens ein Happy-End.
Mein Leben ist nicht erbärmlich, aber vor nicht allzu langer Zeit wollte ich es noch umtauschen. Ich wollte ein anderes. Ich bin keine Selbstmordkandidatin, ich wollte mich noch nie umbringen, ich bin eher die typische Heulsuse, wenn es mir zu viel wird. Und das wurde es leider oft. Es ist die Geschichte, warum ich keine Familie habe, warum ich so oft weine, warum ich so kaputt bin.
Meine Mutter wurde in Lübeck geboren und ist dort auch aufgewachsen. Ihr ging es dort ziemlich gut, ihre Eltern verdienten nicht schlecht und sie war ein Einzelkind. Das Image eines solchen kennt man ja. Ihre Kindheit verlief wohlbehütet, sie bekam alles, was sie wollte, und war zufrieden. Aber als sie in die Pubertät kam, wurde sie schwierig. Ihre Eltern bezeichneten sie als "undankbar" und "faul". Sie fing an, Schule zu schwänzen, hing den ganzen Tag mit einer zwielichtigen Clique herum und machte ihren Eltern nur Ärger. Denen wurde es irgendwann zu bunt. Und als meine Mama am Ende der neunten Klasse dann auch noch die Schule geschmissen hatte, machten sie kurzen Prozess und steckten sie in ein Internat. Von dort ist Mama aber weggelaufen und zurück nach Lübeck. Zu ihren Eltern wollte sie aber nicht mehr, denn die haben ihr ihrer Meinung nach mit dem Internat die schlimmste Freiheitsberaubung angetan, die es für sie gab.
Mama wusste nicht, wo sie hinsollte. Und irgendetwas musste sie ja machen, ab jetzt auf der Straße. Sie war gerade mal fünfzehn, als jemand sie ansprach, ob sie nicht auf eine einfache und sehr genussvolle Art Geld verdienen möchte. Klar, von irgendetwas musste sie leben.
Ohne zu wissen, worauf sie sich da einließ, sagte sie zu und merkte erst zu spät, wer dieser Typ eigentlich war, der ihr den Job angeboten hatte. Aber einmal logisch denken reicht und man weiß es. Der Typ war ein Zuhälter und meine Mama ab diesem Tag eine Nutte. Sie hat mir unter Tränen von dieser Zeit erzählt, es war noch mehr als jenseits von grauenvoll. Wenn es eine Hölle gäbe, wollte sie damals ihren Urlaub dort verbringen. Freizeit hatte sie keine mehr, nicht mal mehr genug Zeit zum Schlafen, Hauptsache Geld verdienen. Und das mit fünfzehn, auf solche kleinen Mäuse stehen die Männer natürlich. Fast drei Jahre machte sie diese Hölle mit, dann konnte sie nicht mehr.
Als ihre Eltern mitbekommen haben, was aus ihrer wohlerzogenen Tochter aus gutem Hause passiert war, brachen sie alle Brücken ab und verstießen sie. Ich habe bis heute keine Ahnung, wer meine Großeltern sind, denn sie haben sich nie wieder bei ihrer Tochter gemeldet. Mama war dann also allein.
Jeden Tag Sex für Geld, und aussteigen konnte man nicht. Kondome waren für die Männer Vorschrift, der Zuhälter achtete darauf. Er konnte es sich nicht leisten, dass seine Mädchen sich mit HIV oder anderen Krankheiten infizierten oder sogar schwanger wurden. Das wäre ja Geldverlust. Mama war mit Abstand die jüngste Nutte. Junges Frischfleisch wurde sie immer genannt. Und bei ihr hat es den ganzen Freiern am wenigsten gepasst, dass sie immer Kondome benutzen musste, ohne wäre ja schließlich viel geiler. Was haben sie gemacht? Abends oder vielmehr nachts, wenn Mama "Dienstschluss" hatte und der Zuhälter nicht mehr so genau hinsah, was seine Mädchen trieben, weil er schon mehrere Alkoholsorten durcheinander intus hatte, dann kamen sie und haben meine Mama vergewaltigt. Alle, immer wieder. Wie ein riesiger Soldatentrupp, der sich abspricht, heute ich, morgen du. Und jeder ist mal dran, damit es gerecht aufgeteilt ist. Es ist eigentlich ein Wunder, dass meine Mama kein AIDS bekommen hat. Aber schwanger wurde sie, von einem dieser widerlichen Typen. Geld für eine Abtreibung hatte sie nicht, also musste sie wohl oder übel das Kind austragen, und war sich sicher, es niemals lieben zu können und am besten zur Adoption freizugeben.
Ich bin dieses Kind. Ich bin das Ergebnis einer von zahllosen Vergewaltigungen. Wer letztendlich mein Erzeuger ist, kann man also so ohne weiteres nicht feststellen, es gibt mehr als 20 Möglichkeiten.
Als meine Mama merkte, dass sie schwanger geworden war, wollte sie aufhören, doch der Zuhälter ließ sie nicht. "Notfalls prügel ich dir das Kind aus dem Leib", sagte er. Aus Angst lief sie weg und begann wieder ein Leben auf der Straße. Sie lebt heute noch in Angst, dass er sie eines Tages finden könnte.
Sie war 17, als sie mich bekam, in einem Krankenhaus von Lübeck. Die wollten sie zuerst nicht aufnehmen, denn sie hatte kein Geld, keine Krankenkarte, gar nichts, stand also quasi mit Wehen im Flur und wurde abgewiesen. Mein Gott, Deutschland ist so ekelhaft zu seinen Bürgern. Die hätten sie ihr Kind glatt auf der Straße bekommen lassen, wenn nicht ein Pfleger mit Herz ein Auge zugedrückt und gesagt hätte, dass das nicht wahr sein kann und dass sie mit ihm mitkommen solle. Er hat sich durchgesetzt, dass sie ihr Kind normal zur Welt bringen konnte, was ihn aber beinahe seinen Job gekostet hatte. Meine Mama wollte mich zuerst zur Adoption freigeben, sie wollte mich nicht lieben können. Und ich kann es auch verstehen. Aber es kam anders. Sie erzählte mir, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, mich wegzugeben, als ich in ihrem Arm lag. Ich hätte so lieb ausgesehen und sehr viel von ihr, ich sehe meiner Mutter sehr ähnlich. Hätte ich meinem Erzeuger ähnlicher gesehen, hätte sie mich wahrscheinlich eher weggegeben. Also hat sie ihr Vorhaben aufgegeben und mich aufgezogen. Sie wusste, dass sich die Dinge grundlegend ändern mussten, das ging so nicht weiter. Sie lebte eine Weile in einem Frauenhaus und als sie volljährig wurde, ist sie dort wieder ausgezogen und hat sich Arbeit gesucht. Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Mama immer noch keinen Schulabschluss - wann hätte sie den auch machen sollen? - was die ganze Sache erheblich erschwert hatte. Deshalb ist sie so hinterher, dass ich in der Schule gut klar komme, denn sie wünscht sich für mich einen weitaus besseren Berufseinstieg, als sie ihn hatte.
Es war wirklich schwer, Arbeit zu finden, denn welcher Betrieb stellt schon eine junge Frau ohne Schulabschluss ein, noch dazu mit einem schreienden Kind? Sicherlich keiner. Mama hatte keine Freunde, wo sie mich hätte lassen können, deshalb musste sie mich zunächst mitnehmen, bis sie einen Krippenplatz finanzieren konnte. Einen Betrieb gab es. Die Chefin von dieser Arbeitsstelle hatte ein Herz und ließ Mama als Aushilfe arbeiten. So konnte sie wenigstens die Miete ihrer Wohnung bezahlen und wusste, wovon wir beide uns ernähren sollten. Aber die Firma musste bald Insolvenz anmelden, sie war einfach zu klein, um sich auf dem immer weiter steigenden Weltmarkt behaupten zu können. Also hatte Mama wieder nichts. Ich war mittlerweile ein Jahr alt und konnte dann wenigstens im Kindergarten bleiben, während Mama sich um neue Arbeit bemüht hatte.
Ich war im Kindergarten die Kleinste, aber ich konnte schon laufen und mit dem Löffel essen. Mama musste die Wohnung kündigen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Wir haben dann bei ihrer ehemaligen Chefin gewohnt, die mittlerweile ihre Freundin und meine Patentante geworden war. Ein halbes Jahr hat Mama von Sozialhilfe gelebt, sie hat sich wieder in einer Schule angemeldet und ihren Abschluss nachgemacht. Damit konnte man sich wenigstens bewerben, auch wenn das eine Weile gedauert hat. Zunächst waren erst mal wieder nur Aushilfsjobs drin, zum Beispiel als Putzfrau oder in einer Bäckerei. Irgendwann sind wir bei Sandra, also meiner Patentante, wieder aus- und in eine kleine Wohnung in ihrer Nähe wieder eingezogen. Sandra kam uns oft besuchen. Sie hat ebenfalls eine Tochter, die meine beste Kindergarten- und Grundschulfreundin wurde. Auch heute haben Theresa und ich noch Kontakt, Sandra kommt uns schließlich oft besuchen und bringt sie dann natürlich mit. Theresa ist ein bisschen jünger als ich, aber wir verstehen uns gut.
Mit einem ordentlichen Schulabschluss in der Tasche hat meine Mama eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht, fing aber schon bald an, als Taxifahrerin zu arbeiten, was sie auch heute noch tut. Fahrschule hatte sie irgendwann noch dazwischen geklatscht. Ich war den ganzen Tag im Kindergarten und wurde immer von Sandra mitgenommen, wenn sie Theresa abgeholt hatte. Und abends hat Mama mich dann bei ihr abgeholt. So ging das vier Jahre lang, so lange dauerte ihre Ausbildung und die Zeit, die sich brauchte, um Arbeit zu finden, mittlerweile als Taxifahrerin.
Dann kam ich in die Schule, worüber ich sehr froh war, denn im Kindergarten war es schrecklich. Wenn ich heute so drüber nachdenke, finde ich, dass diese ganzen Erzieherinnen absolut keine Ahnung von Pädagogik und/oder diese Unterrichtseinheit wohl verschlafen hatten. Uns wurde beigebracht, wie man sich zu wehren und durchzusetzen hatte. An und für sich eine gute Sache, aber die Art und Weise ging gar nicht. Man sollte sich durchbeißen und anderen nichts lassen, was einen selbst benachteiligt.
Man sollte andere Kinder schlagen, wenn sie einem das Spielzeug weggenommen hatten. Man sollte treten, hauen, kratzen, beißen und brüllen, nur um sich durchzusetzen. Ich habe mich schon frühzeitig geweigert, andere Kinder zu schlagen, denn Mama hatte mir immer wieder gepredigt, dass man das nicht macht, dass Gewalt absolut keine Lösung sei. Die Erzieherinnen sagten mir, ich sei zu klein und zu schwach, um mich durchzusetzen. Ich würde später nichts auf die Reihe bekommen, weil niemand mich je ernst nehmen könne. Mama wurde oft in den Kindergarten zitiert, weil ich ein unmögliches Kind wäre, das sich den Erziehungszielen des Kindergartens widersetzt. Da habe ich angefangen, andere zu hauen, bis sie weinten, denn ein kleines Kind, dem gesagt wird: "Du bist böse, du enttäuscht uns", wird natürlich alles tun wollen, was man von ihm verlangt, damit es nicht mehr böse ist.
Wahrscheinlich kommt daher meine manchmal etwas rüde und raue Art. Bestimmt war ich total unsicher und verwirrt. Mama erzählte immer weiter, dass ich niemanden schlagen sollte - und Mama hat ja bekanntlich immer Recht und weiß alles -, aber im Kindergarten bekam ich das genaue Gegenteil um die Ohren geklatscht. Ein Wunder, dass ich keine aggressive Schlägerbraut geworden bin.
Dann kam ich also in die Schule. Alles neu. Theresa wurde leider erst ein Jahr später eingeschult, aber ich fand einen ganz guten Anschluss in der Klasse. Das hat sich aber schon bald geändert, als sie erfahren haben, dass meine Mama "nur" als Taxifahrerin arbeitete und wir kein Geld hatten. Da war ich dann schnell unten durch. Kinder können so gemein und grausam zueinander sein. Also war die Grundschule gleichbedeutend mit sinnlosem Dahinvegetieren und Versuchen, den Ansprüchen gerecht zu werden. Ich glaube, wenn man so jung ist, dann sind das die besten Jahre, um geformt oder aber auch kaputt gemacht zu werden. Man fragt sich, was die anderen haben, was einem offensichtlich fehlt. Geld, aha. Alle Kinder, deren Eltern nur mittelmäßiges Einkommen hatten, wurden aus der Klassengemeinschaft nach und nach ausgeschlossen, die Lehrer sahen machtlos zu. Man fragt sich: Warum ich? Was habe ich denen getan? Ich hatte nur Theresa, als sie im nächsten Jahr dann endlich auch in die Schule kam. Mit meiner Klasse beruhigten sich die Spannungen irgendwann wieder. Nachdem die Direktorin mal ordentlich ihre Meinung gesagt hatte, schienen sie mich und unsere finanzielle Situation zu akzeptieren. Das war aber alles nur scheinheilige Fassade. Hinter meinem Rücken haben sie sowieso über mich gelästert. Das hat auch nicht aufgehört, als ich aufs Gymnasium kam. Auch hier waren wieder alle sehr nett und freundlich. Man arbeitete zusammen, man wurde hin und wieder auch zu einem Kindergeburtstag eingeladen, man wurde zusammen älter. Aber eine Freundin, eine richtige Freundin, hatte ich in Lübeck nie, nur Mama. Niemanden sonst. Selbst Theresa hat sich immer mehr von mir entfernt. Und nach einer Weile fing ich an, diese oberflächliche Bagage zu verachten. Sie interessierten sich für nichts anderes als für sich selbst. Jahrelang hieß es: Einatmen, Küsschen links, Küsschen rechts - umdrehen und kotzen! Das machten alle, also dachte ich, dass ich es auch machen müsste, obwohl ich es nicht wollte. Gruppenzwang ist echt das Letzte. Aber ich war ja zu schwach, um meinen Willen durchzusetzen und ich hatte auch nie die Chance gehabt, selbst etwas auszuprobieren, selbst gegen den Strom zu schwimmen, das hatten die Kindergartenerzieherinnen erfolgreich vernichtet.
Was war ich froh, als wir dort endlich weg konnten! Mama hat gemerkt, dass es mir schlecht ging, meine Noten haben sehr darunter gelitten. Deswegen sind wir umgezogen. Und was soll ich sagen? Hier sind wir glücklich. Hier habe ich die Liebe meines Lebens und richtige, echte Freunde gefunden. Als ich damals angekommen bin, war ich sofort positiv überrascht. Jahrelang waren in der Schule Demütigungen, Lügen, Verrat, Lästerei, Ignoranz, Egoismus und Oberflächlichkeit an der Tagesordnung. Und hier? Offenheit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Interesse, das Gefühl, etwas wert zu sein, einen soliden Platz in der Klassengemeinschaft zu haben. Ich glaube, so einen krassen Umschwung erfährt man nur einmal im Leben. Und dann hat das schon sehr bald mit Tobi angefangen.
Ich hatte in Lübeck auch einen Freund gehabt, aber was soll's? Er hatte keinen Bock mehr auf mich und ich wollte ihn nicht mehr, weil er mich dazu gedrängt hatte, mit ihm zu schlafen. Ende vom Lied? Zwei Tage später hatte er eine Neue. Zuckersüß, die Schlampe. Die hat sich bestimmt bereitwillig von ihm vögeln lassen. Mir egal. Tobi war in mein Leben getreten. Und dort ist er heute noch, mittlerweile an erster Stelle. Seine Augen, seine Stimme, sein Lachen. Ich liebe ihn so sehr. Und Sex ohne Liebe gibt's hier auch nicht.
Meine Mama hatte seitdem ein paar Mal wieder einen Freund gehabt, aber es hatte nie funktioniert. Wahrscheinlich hat sie Angst, sich richtig fallen zu lassen. Sie fürchtet sich davor, nicht aufgefangen zu werden. Ich bewundere sie für das, was sie getan hat. Sie hat ein Kind, dass sie eigentlich hassen müsste, behalten und gelernt, es zu lieben. Es war bestimmt ein riesengroßes Opfer für sie und ist es sicherlich noch heute, denn ich weiß, dass es schwer für sie ist. Schon allein, wenn sie mich ansieht, wird sie an ihre Vergangenheit erinnert. Meine Anwesenheit lässt alles wieder aufleben. Ich bin der wandelnde Beweis, dass man seine Vergangenheit selten oder nur sehr schwer hinter sich bringen kann. Sie müsste mich hassen, doch sie tut es nicht. Und dafür liebe ich sie. Sollte irgendjemand jemals etwas Schlechtes über meine Mutter sagen, dann ist der bei mir lebenslänglich unsympathisch und unten durch. Man sollte sich darauf einstellen.
Ich liebe meine wunderbare und unübertrefflich tolle Mama. Es bereitet ihr Schmerzen, mich anzusehen, mit mir zu reden, mich zu berühren, mich zu lieben. Sie tut es trotzdem. Sie erträgt tapfer die Schmerzen, um mir nicht zu schaden. Sie bringt ein riesengroßes Opfer. Und dafür danke ich ihr von ganzem Herzen.
All das habe ich erfahren, als ich 13 war, natürlich war es ein Schock. Aber seit diesem Tag weiß ich wenigstens, warum mein Erzeuger es nicht wert ist, überhaupt jemals seinen Namen in den Mund zu nehmen, wenn man den denn kennen würde, oder jemals auch nur von ihm zu reden.
Als ich klein war, wurde ich immer gefragt, was mein Vater macht, wo er ist und wie er heißt. Ich musste immer sagen, dass ich es nicht weiß. Andere Kinder erzählten, was sie alles Tolles mit ihren Vätern gemacht haben, das versetzte mir schon einen Stich. Wenn es in meinem Leben je etwas gab, worauf ich richtig neidisch gewesen bin, dann darauf. Ich habe es einfach nicht verstanden. Alle hatten einen Vater, nur ich nicht. Ich habe Mama oft gefragt, es hat sie Überwindung gekostet, überhaupt erst zu antworten. Dein Vater hat uns verlassen, hat sie immer gesagt. Wo er ist, wollte ich immer wissen. Das wisse sie nicht. Mehr Fragen hat sie nicht geduldet. Meistens fing sie dann auch an zu weinen, und ich habe mich verstört gefragt, was ich falsch gemacht habe. Also wurden Fragen zu meinem Vater weniger und irgendwann haben wir gar nicht mehr von ihm gesprochen. Es war nie die Rede von ihm gewesen, er hat nie existiert.
"Sind deine Eltern zu Hause?", fragen die Versicherungsfritzen am Telefon. "Mama arbeitet noch", antwortet die neunjährige Eileen. "Und dein Papa?" Aufgelegt.
Sie haben meistens noch mal angerufen und dann war Mama da, je nachdem wie ihre Schicht ging. Aber ich habe nie wieder auch nur ein Sterbenswörtchen von meinem Vater erzählt (zumindest nicht in der Zeit, als wir noch in Lübeck wohnten), ich habe nicht einmal mehr das Wort Papa in den Mund genommen, niemals wieder. Selbst heute nicht. Ich musste mich auch überwinden, dieses Wort überhaupt erst aufzuschreiben.
Ich habe keinen Vater, ich habe keine Familie. Ich habe meine Mama. Einen wunderbaren Freund. Und bombastische Freunde. Mehr brauche ich nicht. Hat schließlich mein ganzes Leben lang gut funktioniert.
Mamas Taxischichten wurden mit der Zeit strenger, je älter ich wurde. Deshalb hat sie mich so sehr zur Selbstständigkeit erzogen. Ich konnte mit sechs Jahren mein Lieblingsessen eigenständig kochen und war mit acht zum ersten Mal über Nacht alleine zu Hause, weil Mama Nachtschicht hatte. Und ständig bei Sandra einladen konnten wir uns ja schließlich auch nicht.
Ich hasse meinen Erzeuger. Ich denke, das versteht sich von selbst. Er hat meiner Mama nur Schlechtes angetan, er hat sie benutzt. Sie war für ihn kein Mensch, sondern ein wertloses Mittel zum Zweck. Sogar kostenlos. Die schönste Sache der Welt kann so schmutzig werden, indem sie so dermaßen in den Dreck gezogen wird. Und dann ist sie wertlos. Man ist dann wirklich nur noch ein Objekt. Elendig. Kalt. Gefühlstot. Taub. Eingeäschert. Nutzlos. Stumm. Und man lässt es über sich ergehen. Völlig menschenfremd. Wie ein Tier. Ein Tier, das schwächer ist als ein anderes. Man kann sich nicht wehren. Man kann nicht leben. Man kann aber auch nicht sterben.
Das Ganze ist jetzt 18 Jahre her. Meine Mama hat Angst, jemals wieder mit einem Mann zu schlafen. Sie hat es in den gesamten 18 Jahren auch nicht wieder getan. Sie fürchtet sich vor Erinnerungen. Es geht sogar schon so weit, dass sie mir einmal gesagt hat, sie hasse Sex. Kann ich verstehen.
Als sie mir das alles erzählt hat, bin ich in die Welt hinausgestiefelt mit meinen 13 Jahren und habe gedacht, Sex wäre etwas Verdorbenes, etwas Schmutziges, etwas Wertloses. Man solle sich hüten, auch nur jemals dieses Wort zu sagen, dann wäre man gleich selbst eine Hure. Sicher, ich habe Filme gesehen, in denen es Sex-Szenen gab, sie waren liebevoll und schön, wenn man jetzt zum Beispiel an "Titanic" oder "Romeo und Julia" denkt. Aber damals habe ich echt geglaubt, dass 'miteinander schlafen' und 'Sex haben' zwei verschiedene Sachen sind. Wahrscheinlich war das ewig meine Hemmschwelle. Ich wollte nie mit Daniel, meinem Ex-Freund aus Lübeck, schlafen, obwohl er mich immer gefragt und regelrecht dazu gedrängt hatte, mit ihm Sex zu haben. Ich habe mir immer gesagt: Nein, auch wenn du ihn liebst, eine Hure wirst du nicht.
Und dann kam Tobi. Erst Tobi hat mir gezeigt, was richtige Liebe überhaupt bedeutet. Als er mir damals sagte, dass er gerne mit mir schlafen möchte und mich gefragt hat, was ich davon halte, war ich regelrecht überrascht, aber auch neugierig. Und noch viel erstaunter darüber, dass es so schön wurde. Da wusste ich, dass Tobi derjenige ist, der mein Herz verdient hat. Er ist das Beste, was mir je passiert ist. Alleine seine Anwesenheit macht mich verrückt, sein Anblick bringt mich um den Verstand und seine Liebe ist das Wertvollste, was ich besitze. Und das wird immer so bleiben.
Ist etwas länger geworden, Scheiß drauf. Lebensgeschichten sind immer lang.
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